Scientifica

"Das ist so ein Buch, wie ich sie als Kind verehrt habe, alleine wegen ihrer mächtigen physischen Präsenz. Ich habe sie auf eine ausgesucht saubere Stelle des Bodens gelegt, vorsichtig aufgeschlagen, die großen Abbildungen betrachtet und den charakteristischen Geruch der Seiten eingeatmet. Ich war sehr darauf bedacht keine Spuren meiner heimlichen Lektüre zu hinterlassen, schließlich musste ein so großes und schweres Buch mit großen leuchtenden Bildern einen viel größeren Wert haben als ein einfacher Taschenbuchroman.

Umso erstaunter war ich, als ich eines Tages feststellen musste, dass im Eingangsbereich der Buchhandlungen dutzende dieser schweren Hardcover-Bücher zu Dumping-Preisen verkauft werden.Für mich haben sie nichts von ihrer Anziehungskraft verloren - auch wenn sie, wie dieses Buch, für derzeit nur 25 Euro bei Amazon verkauft werden, behandle ich es immer noch so ehrfurchtsvoll wie damals. Am liebsten sind mir große Bücher, die Wissen sammeln, sie heißen Das große Buch des Allgemeinwissens, Reader Digest Bilderlexikon oder Das Reich der Pharaonen.

»Während Sie das hier lesen, wächst das Universum!«

Scientifica stellt in meiner Sammlung dasjenige dar, das die Naturwissenschaften umfasst: Mathematik, Physik, Astronomie, Biologie, Chemie, Geologie, Medizin. Ich finde es schade, dass es mir schwer fällt, sie zu verstehen. Ich greife deshalb gerne auf einfache, populärwissenschaftliche Erklärungen zurück, möglichst reicht bebildert, um meine Vorstellungskraft nicht zu überfordern.

Dass es vielen Lesern so geht, bestätigen die Herausgeber von Scientifica: »[...] und so setzt [es] sich Scientifica zum Ziel, ehemalige intellektuelle Krisengebiete interessant zu gestalten, indem es die Verbindungen zwischen dem, was entdeckt, untersucht und entwickelt wurde, und dem täglichen Leben aufzeigt.«

Auf 500 Seiten wird schön übersichtlich auf je einer Doppelseite ein Themenbereich der sieben Disziplinen vorgestellt. Es wird erklärt, wie der Bereich entstand, was er kann und wie er heute verwendet und begriffen wird. Bei der Mathematik findet sich zum Beispiel das Kapitel Infinitesimalrechnung (erster Satz: »Allein der Begriff treibt vielen wahrscheinlich bereits den Angstschweiß auf die Stirn«.)

Ich lerne, dass sie im 17. Jahrhundert von Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibnitz erfunden wurde, die Ägypter 3000 Jahre zuvor aber bereits das Volumen ihrer Pyramiden berechneten. Die Infinitesimalrechnung diene der Erfassung von Veränderung und Bewegung und komme heutzutage unter anderem bei der Organisation von Mietwagenbuchungen während der Hauptsaison zum Einsatz, »kurz, [um] allerlei komplizierte Aufgaben zu lösen«, fügen die Autoren lapidar hinzu.

Im Absatz Infinitesimalrechnung für alle wird mir dann ein wenig abstrakte Mathematik zugemutet (»Wenn man eine Zahl quadriert, dann die Quadratwurzel aus dem Ergebnis zieht, kommt man auf die ursprüngliche Zahl zurück«). Dazu eine mathematische Formel, die mir natürlich nichts sagt. Zum Glück hat man daran gedacht, ein 210x230 mm großes Bild darüber zu legen, das asiatische Kinder in einer Spielhalle zeigt, mit Beschreibungstext: »Man möchte es kaum glauben, aber ohne Infinitesimalrechnung wären Computerspiele nur halb so aufregend, wie sie sind«.

Manchmal stört der sehr behutsame Umgang mit den Auffassungsmöglichkeiten des Lesers ein wenig. Und doch: dieses Kapitel vereint gerade so viel Information zur Infinitesimalrechnung, wie ich sie verarbeiten kann und in einem Leben brauche. Manchmal nehme ich mir am Abend ein Thema vor, das ich zur Schulzeit erfolgreich ignoriert habe, und siehe da, so schwierig scheint das alles gar nicht zu sein. Scientifica ist ein würdiges neues Mitglied meiner Sammlung großer, schwerer Bücher.